Oft hört man von der „Goldenen Regel“. Diese ist eine für alle leicht verständliche Mindestform praktischer Ethik und bedeutet, dass man andere so behandeln solle, wie man selbst gerne behandelt werden möchte. Diese Regel hat sich im Deutschen als verbreitetes Sprichwort niedergeschlagen, das da lautet:
Was du nicht willst, das man dir tu‘, das füg‘ auch keinem Anderen zu.
In solcher oder ähnlicher Art findet man eine Handreichung in fast allen Religionen bzw. deren Schriften. Es fällt jedoch auf, dass der Koran nichts dergleichen enthält, wohingegen in den Ahadith derlei durchaus zu finden ist:
„Keiner von euch ist gläubig, solange er nicht für seinen Bruder wünscht, was er für sich selbst wünscht.“
(Buhari Volume 1 Book 2 Number 13)
„Wünsche den Menschen, was du dir selbst wünschst, so wirst du ein Muslim.“
(Adel Theodor Khoury: Die Goldene Regel in religions- und kulturwissenschaftlicher Sicht. In: Alfred Bellebaum, Heribert Niederschlag (Hrsg.): Was Du nicht willst, daß man Dir tu’… Die Goldene Regel – ein Weg zu Glück? Konstanz 1999, S. 35)
Wieso also verzichtet der Koran auf solch eine Regel? Sie ist an sich ja sehr griffig und wird von allen akzeptiert. Die Antwort ist einfach. Der Koran spielt auf die goldene Regel an:
Sure 24 Vers 22: „Und die unter euch, die Reichtum im Überfluß besitzen, sollen nicht schwören, den Anverwandten und den Bedürftigen und den auf Allahs Weg Ausgewanderten nichts zu geben. Sie sollen (vielmehr) vergeben und verzeihen. Wünscht ihr nicht, daß Allah euch vergebe? Und Allah ist Allvergebend, Barmherzig.“ (Rasul)
ولا ياتل اولوا الفضل منكم والسعة ان يوتوا اولى القربى والمسكين والمهجرين فى سبيل الله وليعفوا وليصفحوا الا تحبون ان يغفر الله لكم والله غفور رحيم
In diesem Vers wird erinnert, dass man vergeben solle, weil man doch selbst wohl gerne vergeben bekommen möchte.
Er verlangt jedoch noch viel mehr, nämlich, dass man den Menschen gerecht wird. Gerechtigkeit nimmt im Koran einen zentralen Platz ein, denn Gott möchte Gerechtigkeit für das, was er erschaffen hat:
Sure 3 Vers 108: „Dies sind die Zeichen Allahs; Wir verkünden sie dir in Wahrheit. Und Allah will keine Ungerechtigkeit gegen die Welten.“ (Rasul)
تلك ءايت الله نتلوها عليك بالحق وما الله يريد ظلما للعلمين
Entsprechend ist der Mensch – als Statthalter Gottes auf Erden – verpflichtet dafür Sorge zu tragen, dass es gerecht zugeht. Dies ist jedoch weitreichender, als es auf den ersten Blick aussieht, denn um gerecht zu sein, muss man sich mit den Menschen befassen, muss sie verstehen und sich in sie hineinversetzen. Insofern ist die „goldene Regel“ nur der erste notwendige Schritt, den bereits Kinder verstehen können, dass man von seinen Bedürfnissen auf die Bedürfnisse anderer schließen kann – zumindest in den meisten Fällen. Aber um wirklich gerecht sein zu können muss man weiter gehen und vergleichen, ob die Bedürfnisse des Gegenübers mit den eigenen Bedürfnissen übereinstimmen um dann zu einem sinnvollen Konsens zu gelangen, denn die Bedürfnisse des einen können durch die Bedürfnisse des anderen unter Umständen beschränkt werden. Beispielsweise wenn jemand krank ist und dennoch das Bedürfnis hat sich mit anderen zu treffen, kann dies im Falle einer Infektionsgefahr mit dem Bedürfnis anderer, gesund bleiben zu wollen, kollidieren. Die Schwierigkeit besteht nun daran, beiden Bedürfnissen Geltung zu verschaffen – durch einen Mundschutz oder andere Vorkehrungen.
Wir sehen also, dass die goldene Regel nur ein kleiner Bestandteil von Gerechtigkeit ist, denn wenn man ewig auf der Ebene bleibt, dass man von sich auf andere schließt, so wird man früher oder später nur in Konflikte geraten, denn die Menschen sind nicht alle gleich. Deswegen müssen die Menschen sich kennenlernen, bevor sie handeln können:
Sure 49 Vers 13: „O ihr Menschen, Wir haben euch aus Mann und Frau erschaffen und euch zu Völkern und Stämmen gemacht, auf daß ihr einander erkennen möget. Wahrlich, vor Allah ist von euch der Angesehenste, welcher der Gottesfürchtigste ist. Wahrlich, Allah ist Allwissend, Allkundig.“ (Rasul)
يايها الناس انا خلقنكم من ذكر وانثى وجعلنكم شعوبا وقبائل لتعارفوا ان اكرمكم عند الله اتقىكم ان الله عليم خبير
Ohne Dialog bleibt die „Goldene Regel“ eine Einbahnstrasse.