Kein Zwang im Glauben: Religionsfreiheit im Islam

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Aus: „Islam im Alltag – Eine Handreichung für deutschsprachige Muslime“ von Abdullah Leonhard Borek (Herausgeber) in Zusammenarbeit mit der Deutschen Muslim-Liga e.V.
Religionsfreiheit, d.h. Die Freiheit der Wahl der Religion und ihrer Ausübung, gehört in allen demokratisch verfassten säkularen Gemeinwesen im Westen zu den in der Verfassung verankerten Individualrechten entsprechend den allgemeinen Menschenrechten. Nicht zuletzt profitieren die im Westen lebenden Muslime von der Religionsfreiheit, die ihnen persönliche Entfaltungsmöglichkeiten im religiösen Bereich bietet, von denen ihre Glaubensbrüder in den traditionellen islamischen Ländern in der Dritten Welt nur träumen können. Dennoch gibt es viele unter ihnen, die zwar diese Freiheit schätzen und gern für sich in Anspruch nehmen, den Säkularstaat aber gleichzeitig verteufeln. Offensichtlich ist es nicht jedem gegeben, Vor- und Nachteile unter Inanspruchnahme des von GOTT verliehenen Verstandes und der Vernunft gegeneinander abzuwägen, und im schlimmsten Falle wenigstens das zu wählen, was als das kleinere Übel erscheint.


Es wird dem Islam, oder richtiger den Muslimen, vorgeworfen, sie seien intolerant. Zwar predige der Islam Toleranz, jedoch sei davon in den meisten „islamischen“ Ländern nichts zu spüren. Gern nähmen die im Westen lebenden Muslime die Religionsfreiheit für sich in Anspruch, seien aber nicht bereit, Anhängern anderer Religionen in den islamischen Stammländern die gleichen Rechte einzuräumen; Anhänger anderer Religionen würden diskriminiert, ja ein einem anderen Glauben zuneigender Muslim sei vom Tode bedroht. Von Glaubensfreiheit also keine Spur. Unglücklicherweise sind diese Vorwürfe nicht von der Hand zu weisen, aber glücklicherweise gibt es inzwischen unter den Muslimen darüber Auseinandersetzungen und somit Hoffnung. So gibt es beispielsweise in Pakistan Gesetze über Gotteslästerung, die jedem Rechtsempfinden widersprechen und der Verleumdung Andersdenkender Tür und Tor öffnen; diese schändlichen Gesetze sollen revidiert werden. Auch geht in der Hysterie in Bangladesch um Taslima Nasrin unter, dass der Auslöser ihr mit „Schande“ betiteltes Buch war, in dem Diskriminierung von religiösen Minderheiten in Bangladesch angeprangert wurde. Das sind komplexe Probleme, die den Rahmen dieses Rundbriefes sprengen. An dieser Stelle soll nur auf einen Bereich näher eingegangen werden, nämlich den des Abfalls vom Glauben oder die Apostasie. In der islamischen Terminologie wird der Abfall vom Glauben mit „riddah“ bezeichnet.

Das arabische Wort bedeutet „Rückkehr“, im islamischen Sinne der Unglaube eines Muslims durch Wort und Tat und damit das Verlassen der Gemeinschaft der Gläubigen. Die Zahl der Koranverse, die den Abfall vom Eingottglauben zum Thema haben und zum Teil den Begriff „riddah“ verwenden, ist zweistellig; im Koran wird der Abfall vom Glauben als höchst verabscheuungswürdig bezeichnet. Allerdings erwähnt keiner dieser vielen Koranverse direkt oder indirekt eine bestimmte festgelegte Strafe im Diesseits, wie das etwa bei Mord, Unzucht, Diebstahl, usw. der Fall ist. Allerdings bedroht Vers 74 der 9. Sure solche Leute mit schwerer Bestrafung im Diesseits wie im Jenseits; bestimmt ist diese Strafe jedoch nicht.

Eine Mehrheit der islamischen Gelehrten stimmt darin überein, dass der Abfall vom Glauben mit dem Tode zu bestrafen sei. Dieser Auffassung liegt eine authentische Überlieferung zu Grunde, die den Propheten (a.s.) wie folgt zitiert: „Wenn jemand seine Religion wechselt, tötet ihn.“ Es darf als bekannt vorausgesetzt werden, dass solche Verbrechen, für die eine bestimmte Strafe festgelegt ist, einer besonderen Kategorie angehören; wenn nach den Regeln des islamischen Gesetzes ein solches Verbrechen nachgewiesen wird, kann die Strafe nicht ausgesetzt werden.

Wenn auch der Abfall vom Glauben aus islamischer Sicht als Verbrechen angesehen wird, so erhebt sich die Frage, ob der Islam tatsächlich die Todesstrafe vorschreibt und ob diese auch unter allen Umständen vollzogen werden muss. Prof. Muhammad al-Awwa, eine führende Autorität unserer Zeit auf dem Gebiet der islamischen Rechtskunde, behandelt dieses Thema ausführlich in seinem Werk „Grundlagen islamischer Strafjustiz“. Seine Argumentation erscheint sehr gut begründet und liegt auf der Linie islamischer Denkweise. Professor al-Awwa erwähnt Scheich Mahmoud Schaltut, den früheren Rektor der Azhar-Universität und hochangesehenen Gelehrten. Scheich Schaltut stellte die Grundlage der landläufigen Auffassung, dass ein Glaubenabtrünniger getötet werden müsse, wie folgt in Frage: „Die Auffassung in Bezug auf diese Frage (d.h. den Abfall vom Glauben) kann sich ändern, wenn wir uns daran erinnern, dass eine große Zahl von Gelehrten der Meinung ist, festgelegte Strafen (d.h. hadd-Strafen) bedürften einer stärkeren Grundlage, als nur einer einzigen Überliefererkette. Der Nichtglaube an den Islam ist kein Grund, einen Nichtgläubigen zu töten. Was die Tötung eines Menschen erlaubt macht ist, wenn er die Muslime bekriegt und bekämpft und von ihrer Religion abzubringen versucht. Die klare Botschaft einer großen Zahl von Koranversen ist die, dass Zwang in Dingen des Glaubens unzulässig ist.“

Die Grundlage und die stärkste Untermauerung der Auffassung, ein Glaubensabtrünniger sei zu töten, ist die oben zitierte Überlieferung. Deswegen ist die Frage zu beantworten, ob diese Anordnung allgemein verpflichtend ist oder ob es noch ergänzende Hinweise gibt, die die Ausführung dieses Gebotes weniger verpflichtend machen. Bevor man an diese Frage herangeht, ist zunächst festzustellen, dass die sprachliche Befehlsform der Überlieferung eine Verpflichtung darstellt, die gar nichts anderes bedeuten kann, wenn nicht zusätzliche Beweise in Bezug auf den Inhalt dieser Überlieferung eine andere oder weniger verpflichtende Interpretation nahe legen.

Fest steht, dass der Koran für den Abfall vom Glauben keine bestimmte Strafe festsetzt, jedoch reicht das Schweigen des Koran an sicht nicht aus, um eine Anordnung in der obigen Überlieferung für geringer als verpflichtend zu achten. GOTT hat seinen Gesandten ermächtigt, in Bereichen, in denen keine Einzelanweisungen gegeben wurden, für seine Anhänger Regeln festzulegen. GOTT hat den Gehorsam gegenüber seinem Gesandten verpflichtend gemacht. Wenn wir etwas vom Propheten (a.s.) annehmen, dann ist es GOTTES Urteil, wie Imam Al-Scha’fei sagte.

In den authentischen Überlieferungen gibt es ausreichend Beweise, die den Schluss nahe legen, die in der obigen Überlieferung enthaltende Anweisung bedeute nicht, dass jeder Glaubenabtrünnige zu töten sei, wohl aber getötet werden kann. Das bedeutet, dass die Anwendung der Strafe – nach Würdigung der Umstände einschließlich des Nutzens oder des Schadens für die Gemeinschaft der Gläubigen – im Belieben des Richters oder des Oberhauptes des islamischen Staates steht, mit anderen Worten: Die Obrigkeit im islamischen Staat hat darüber das letzte Wort. Die Überlieferung bedeutet somit im Klartext: „Wer seinen Glauben wechselt, kann mit dem Tode bestraft werden, aber das ist keine zwingende Strafe.“ Was nun die ergänzenden und zu berücksichtigenden Beweise betrifft, ergibt sich folgendes Bild:

Erstens fehlt bei sämtlichen Überlieferungen, nach denen der Prophet (a.s.) die Tötung von Glaubensabtrünnigen befohlen haben soll, der Echtheitsnachweis in Bezug auf die Überliefererkette. Mit anderen Worten: Es gibt keine den Kriterien der islamischen Hadithkritik standhaltenden Überlieferungen, nach denen der Prophet (a.s.) die Todesstrafe an jemandem vollziehen ließ, der seine Religion wechselte.

Zweitens wird in den Hadithsammlungen sowohl bei Buchari wie auch bei Muslim berichtet, ein Beduine habe den Propheten (a.s.) dreimal ersucht, ihn aus seinem Treuegelöbnis zu entlassen. Der Prophet (a.s.) weigerte sich und der Beduine verließ ihn. Darauf sagte der Prophet (a.s.), Medina sei wie ein Feuer. Es schmilzt die schlechten Bestandteile heraus und lässt die guten scheinen und glänzen. Das war ein klarer Fall von Apostasie, aber der Prophet (a.s.) ließ diesen Beduinen weder bestrafen noch hinderte er ihn am Verlassen Medinas.

Drittens berichtet Buchari auf Autorität von Anas, dass ein Christ Muslim wurde und zwei lange Suren (Al Baqqarah und Al Imrân) auswendig lernte. Auch schrieb er für den Propheten (a.s.) die Offenbarungen nieder. Dann aber kehrte er zu seinem Christentum zurück. Später sagte er, Muhammad (a.s.) hätte nichts anderes zu sagen, als was er (der Christ) für ihn aufgeschrieben habe. GOTT ließ ihn sterben und er wurde begraben, jedoch am nächsten Morgen fand man, dass die Erde seine Leiche ausgespieen habe. Diese Überlieferung berichtet uns also von einem Mann, der, nachdem er Muslim geworden war, zu seinem christlichen Glauben zurückkehrte, obwohl er die zwei längsten Suren des Korans gelernt hatte. Trotzdem ließ der Prophet (a.s.) ihn nicht bestrafen.

Viertens berichtet uns der Koran von einer Gruppe von Juden, die einen Tag den Islam annahmen und dann wieder abfielen und dies mehrfach taten, um die Gläubigen in Versuchung zu führen (vgl. Sura 3:72). Dieser kollektive Abfall vom Glauben fand in Medina statt, wo der islamische Staat unter der Führung des Propheten (a.s.) errichtet war. Trotzdem wurden diese Glaubensverräter nicht bestraft, deren Absicht wie der Koran uns mitteilst darin bestand, die Gläubigen zum Abfall vom Islam zu bewegen. Es gibt ähnliche Berichte aus der Zeit des Kalifen Umar Ibn Abdul Aziz.

Betrachtet man also diese Fälle, dann fällt es nicht leicht, zu akzeptieren, dass der Tod die zwingende Strafe für den Glaubensabfall ist. Die Gelehrten haben sich von frühester Zeit an mit diesem Problem auseinandergesetzt. Ibrahim Al-Nuchai, ein führender Gelehrter der Generation nach den Prophetengefährten, ist der Auffassung, ein Abtrünniger sollte immer wieder zur Rückkehr in die Gemeinschaft der Gläubigen aufgefordert werden und zwar so lange er lebt. Ein anderer führender Gelehrter, Sufian Al-Thauri, hat diese Auffassung berichtet und sich ihr angeschlossen. Al-Badschi, ein führender Gelehrter der malikitischen Rechtsschule, erwiderte auf die Forderung, ein Glaubensabtrünniger müsse getötet werden: Abfall vom Glauben ist ein Akt des Ungehorsams ohne festgelegte Strafe und verletzt nicht das Recht eines anderen Geschöpfes, wie das auch auf andere Akte des Ungehorsams zutrifft.“ Handlungen des Ungehorsams können nach Gutdünken des Richters oder Herrschers bestraft werden; darüber sind sich die Theologen einig.

Es gibt keine uns überlieferte Aussage des Propheten (a.s.) aufgrund der man einen Abtrünnigen einsperren könnte, wie das der Kalif Umar Ibn Al Chatab tun wollte, oder zu unterscheiden zwischen einem Abtrünnigen, der die Lehren des Islam gelernt hat und zu einem Ungebildeteten, wie es der Kalif Umar Ibn Abdul Aziz befahl, noch für die von ihm verfügte Auferlegung der Schutzabgabe (dschisia) mit der Erlaubnis, dem Glauben ihrer Wahl zu folgen. Aufgrund der Handlungen dieser theologisch versierten Herrscher muss davon ausgegangen werden, dass sie die in der eingangs zitierten Überlieferung vorgesehene Strafe nicht als zwingend angesehen haben.

Zusammenfassend ist also zu sagen, dass die Bestrafung des Abfalls vom Glauben den zuständigen Stellen des islamischen Staates überlassen ist. Die Obrigkeit entscheidet, welche Strafe im Einzelfall angemessen ist, und zwar unter dem Einschluss der Todesstrafe.

Damit bringt man die unterschiedlichen Berichte, nach denen einige Gefährten des Propheten (a.s.) die Todesstrafe für Abtrünnige verhängten und andere wiederum nicht, unter ein Dach. Die Auffassungen von Al-Nuchai und Al-Thauri, nach denen ein Abtrünniger zu seiner Rückkehr aufgefordert werden sollte, passt ebenso dazu. Das ändert nichts daran, dass diese Auffassung im Gegensatz zur Mehrheit der Theologen steht, obwohl sie gut begründet ist. Prof. al-Awwa schließt seine Ausführung wie folgt: „Sollte meine Auffassung richtig sein, dann preise ich GOTT für Seine Gnade. Wenn sie falsch ist, dann ist das mein Fehler und ich bitte GOTT um Vergebung:“

Die Argumentation von Prof. al-Awwa ist gut begründet und überzeugend und stimmt vor allem mit er koranischen Aussage: „Es gibt keinen Zwang im Glauben“ überein. Es bietet sich in diesem Zusammenhang der Hinweis darauf an, dass Glaubens- und Staatsangehörigkeit (mit Ausnahme der Schutzbefohlenen) identisch waren. Wer also in einem islamischen Staat dieser Konstruktion vom Glauben abfiel, beging nicht nur eine Sünde vor GOTT, sondern im strafrechtlichen Sinne auch Hochverrat. Darauf steht auch noch heute in vielen (auch nichtislamischen) Ländern die Todesstrafe.

Eine ganz andere Frage ist die theologische Legitimation heutiger Staaten mit überwiegend muslimischer Bevölkerung zur Verhängung der (wie oben ausgeführt nicht zwingenden) Todesstrafe bei Fällen von Apostasie.

(Dieser Artikel basiert in weiten Teilen auf einer Veröffentlichung in der englischsprachigen in Saudi-Arabien erscheinenden Tageszeitung ARAB NEWS vom 26. Februar 1993, S.9.)

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