Diese Frage ist – ob bewusst oder unbewusst gestellt – die entscheidende Frage für den Fortgang der Lebenssysteme, die auf dem Koran basieren. Die gängigen Antworten darauf lauten: „ja“ und „nein“. Dabei erschaffen orthodoxe und liberale Strömungen einen Islam, der entweder nicht mehr zeitgemäß ist oder aber als solcher gar nicht mehr erkannt wird. In meinen Augen ist die Ursache darin begründet, dass mit der Beantwortung der eingangs gestellten Frage meist weniger nach dem Koran gesehen wird, sondern vielmehr nach der eigenen Befindlichkeit.
Die Vertreter der zeitlosen Variante der Koranexegese streben nach festen Regeln, nach Sicherheit und Ordnung und träumen von einem ursprünglichen Islam, wie er zu Zeiten Muhammads praktiziert wurde bzw. sie bilden sich ein zu wissen, wie es damals war. Das Problem, welches dabei entsteht ist aber, dass sich die Lebensumstände der Menschheit radikal verändert haben und wir eben nicht in einem Dorf leben, in dem jeder jeden kennt und auch nicht primär von Viehzucht leben oder als Kaufmänner unterwegs sind. In der Folge erschaffen sich Vertreter dieser Denkweise so lediglich einen eigenen kleinen Mikrokosmos, der regelmäßig von der Realität eingeholt wird. Dann nämlich, wenn Kontakt nach außerhalb besteht. Daraus erklärt sich in meinen Augen die Abschottung von anderen Gesellschaften, denn diese kommen entsprechend gar nicht um umhin, einen solchen Islam als rückständig und dumm zu betrachten. Zum einen, weil er es eben ist, zum anderen, weil seine Werte durch eine solche Praxis ad absurdum geführt werden.
Auf der anderen Seite stehen die sogenannten Liberalen Muslime, deren Interpretation des Koran lediglich dazu führt, dass man den Koran allenfalls für das Jenseits oder die Spiritualität brauche und die gängigen westlichen Lebensmodelle ja doch die besseren seien. Dies gipfelt dann manchmal in so unsäglichen Schlussfolgerungen wie: „Homosexualität ist jetzt statthaft, weil der Koran historisch gesehen werden muss.“ Aha, es gab laut diesen Interpreten also eine Zeit, in der Homosexualität nicht statthaft war? Ein tieferer Blick in den Koran wäre das eher zu raten gewesen, als einfach herzugehen und koranische Konzepte gegen westliche Modelle auszutauschen, denn letztlich läuft es ja darauf hinaus: durch Historisierung den Koran irrelevant machen. (Zur eigentlichen Stellungnahme des Koran zur Homosexualität: http://www.meine-islam-reform.de/index.php/artikel/fiqh/47-homokoran.html
Die eigentliche Antwort auf die gestellte Frage lautet somit weder „ja“ noch „nein“, sondern vielmehr: „es kommt darauf an“. Es kommt darauf an, zu sehen, was der Koran überhaupt sagen will, was sein Ziel ist und was er vermittelt. Dabei kann man drei Kategorien finden:
- Das Recht Gottes am Menschen
- Das Recht des Menschen am Menschen
- Das Recht des Menschen an sich selbst
Es steht außer Frage, dass die Punkte 1 und 3 für unsere Fragestellung zu vernachlässigen sind. Es liegt auf der Hand, dass das Recht Gottes zeitlos sein muss, da Gott zeitlos ist. Das heißt konkret, dass die Frage nach dem rituellen Gebet nicht damit beantwortet werden kann, dass es in der heutigen Zeit nicht zu machen sei, mehrmals am Tag zu beten oder gar einen Monat zu fasten, weil man beruflich zu sehr eingebunden sei. Vielmehr sollte die gesellschaftliche Entwicklung hinterfragt werden. Göttliche Riten sind und bleiben zeitlos auch wenn die Möglichkeiten dazu nicht für jeden gangbar sein müssen. Gottes Barmherzigkeit umfasst auch menschliche Unfähigkeit. Das Recht an sich selbst ist eine individuelle Sache, die jeder für sich mit Gott ausmachen kann und muss. Es betrifft nicht das Umfeld in dem wir leben und muss daher an dieser Stelle nicht gesondert behandelt werden. Grundsätzlich kann es jedoch auch durch Punkt 2 beantwortet werden.
Das Recht am Menschen ist der eigentliche Knackpunkt, denn dort wo Menschen miteinander interagieren können Konflikte und Probleme entstehen und deren Lösung ist eines der Anliegen des Koran. In meinen Augen sollte man bei koranischen Themen grundsätzlich erst einmal in Werte und Normen auseinanderdividieren. Die dargelegten Werte sind ohne Schwierigkeit als zeitlos zu klassifizieren – das haben Werte meist so an sich, denn der Wert gibt die Richtung vor und nicht die Gesellschaft (natürlich unter der Prämisse des Göttlichen). Ein Wertewandel ist somit nicht die Grundlage der der Ausgangsfrage, da Gott sich nicht wandelt. Was sich hingegen verändert ist der Mensch. Wenn sich aber der Mensch wandelt, so sind irgendwann die zu den Werten gehörenden Normen nicht mehr stimmig. So lesen wir im Koran beispielsweise, dass der Mann Verantwortung für die Frau übernehmen soll, weil er der finanziell stärkere sei. Dies ist eine Grundlage, die heute nicht mehr stimmt. Oftmals ist die Frau berufstätig und der Mann arbeitslos. Die Gründe dafür sollen nicht besprochen werden, auch nicht, welches Familienmodell besser ist. Doch muss man dem Rechnung tragen. Die Grundaussage lautet nämlich: der Stärkere schützt den Schwächeren. Dies ist in gewisser Weise ein Solidaritätsprinzip und darauf kommt es an. Der Wert, der hier transportiert wird ist Solidarität. Würde man nun stur darauf bestehen, dass der Mann die Rolle des Stärkeren ausfüllt, so führt dies zum gelebten Hartz IV Modell eines Pierre Vogel, wobei der ja noch gut wegkommt. Aber all die bärtigen Puritanier sorgen dann dafür, dass sie nichts arbeiten, weil sie ohnehin meist schwer vermittelbar sind und die Frauen hocken zu Hause um sich von einem Sozialversager „beschützen“ zu lassen. Wovor? Einem gehobenen Lebensstandard vermutlich. Denn dies ist der innere Widerspruch der durch die Enthistorisierung der angegeben Normen entsteht und die Religion des Islam macht plötzlich alles, nur keinen Sinn mehr.
In der Folge ist zu raten, ich immer bewusst zu machen, wo der Koran mit einem hin will und wie dies zu erreichen ist. Die Folgefrage lautet: ist dies in der heutigen Zeit mit der im Koran dargelegten Norm zu erreichen? Wenn dies nicht der Fall ist, so ist diese Norm sicherlich nicht als zeitlos zu betrachten und sollte zwar nicht vergessen werden, wohl aber auf ihre aktuelle(!) Tauglichkeit hin untersucht werden.
Der Koran ist sowohl universell als auch historisch zu verstehen. Dies sollte die Aufgabe der heutigen Koranexegese der Muslime sein und nicht der Versuch eine Sharia von vor tausend Jahren zu implementieren und vielleicht noch Tonnen von Sand und Kamelen in Berlin abzuladen.