Setzt Gott bei bestimmten Anlässen die Naturgesetze mit Wundern außer Kraft? Werden die physikalischen Gesetze mit einigen Ausnahmen dabei behoben? Es gibt viele Belegstellen aus dem Koran, die diesen Anschein unterstreichen. Jesus (as) spricht z.B. aus der Wiege zu den Menschen:
“Und er (Jesus) wird in der Wiege zu den Leuten sprechen, und als Erwachsener, und (wird) einer von den Rechtschaffenen (sein)“ (Koran:3/46).
Die muslimischen Koranexegeten nehmen deshalb an, dass Jesus (as) schon von seiner Geburt an predigte (siehe hierzu: Tafsir Al-Quran Al-Karim, S.182).
Hier noch einige weitere Beispiele.
Noahs (as) Leben währte 950 Jahre lang: „Und wahrlich, Wir sandten Noah zu seinem Volk, und er weilte unter ihnen eintausend Jahre weniger fünfzig Jahre.“ (Koran, Sure 29 Vers 14)
Ein Mensch kann nach den heutigen biologischen Erkenntnissen maximal nur hundertzwanzig bis hundertfünfzig Jahre Leben.
„Oder wie jener, der an einer Stadt vorüber kam, die auf ihren Dächern lag, (und) ausrief: „Wann wird Allah diese dem Leben zurückgeben nach ihrem Tod?“ Da ließ Allah ihn sterben auf hundert Jahre; dann erweckte Er ihn (und) sprach: „Wie lange hast du geharrt?“ Er antwortete: „Ich harrte einen Tag oder den Teil eines Tages.“ Er sprach: „Nein, du harrtest hundert Jahre lang. Nun blicke auf deine Speise und deinen Trank; sie sind nicht verdorben. Und blicke auf deinen Esel – also, dass Wir dich zu einem Zeichen machen für die Menschen. Und blicke auf die Knochen, wie Wir sie zusammensetzen und dann mit Fleisch überziehen.“ Als ihm dies klar wurde, sprach er: „Ich weiß, dass Allah die Macht hat, alles zu tun, was Er will.“ (Koran: 2/259)
Dieser Koranvers wird wie folgt kommentiert:
Während Speise und Trank, die der Mann zurückgelassen hatte, nicht dem Verfallsgesetz unterlagen, blieben von dem Esel nur die Knochen. Da wurde die Allmacht Allahs für den Betrachter erkennbar (Tafsir Al-Quran Al-Karim, S.156).
Diejenigen, die dafür plädieren, unter allen Umständen sich buchstabengetreu an den Text zu orientieren, scheinen auf dem ersten Blick den Koran auf ihrer Seite zu haben:
„Weißt du nicht, dass Allah die Macht hat, alles zu tun, was Er will?“ (Koran:2/106)
Allerdings gibt es gegen die offizielle Auslegung auch Gegenstimmen. Auch sie sind der Ansicht, dass Gott allmächtig, ja der Urheber der Naturgesetze ist.
Professor Michael Cook von der Universität Princeton, schreibt in seinem aus dem Jahre 2000 erschienenen Buch dazu:
„Gott ändert Seine Gewohnheiten nicht, so wird uns versichert: Er behandelt gegenwärtige Generationen nicht anders als frühere. Diese Beschwörung der „Gewohnheit Gottes“ (sunnat Allah) ist nicht ohne Bedeutung. Die Formel findet sich recht häufig im Koran; wir erfahren in den einschlägigen Versen vor allem, dass Gottes Gewohnheit sich niemals ändert:
„Du wirst in Allahs Gesetzmäßigkeit keine Änderung finden, und du wirst in Allahs Gesetzmäßigkeit keine Abwandlung finden.“ ” (Koran: 35/43. Michael Cook, der Koran, S. 43)
„(Das ist) die Gesetzmäßigkeit (, mit der) an denjenigen von Unseren Gesandten (verfahren wurde), die Wir bereits vor dir sandten. Und du wirst bei Unserer Gesetzmäßigkeit keine Abwandlung finden.“ (Koran: 17/77)
„(So war) Allahs Gesetzmäßigkeit mit denjenigen, die zuvor dahingegangen sind. Und du wirst in Allahs Gesetzmäßigkeit keine Änderung finden.“ (Koran, 33/62)
Der rationale Denker Muhammad Asad kommentiert den Vers:
“Und als Gesandter (Allahs) an die Kinder Israel (wies Jesus sich aus mit den Worten:) “”Ich bin mit einem Zeichen von eurem Herrn zu euch gekommen, dass ich euch aus Lehm etwas schaffe, was so aussieht, wie Vögel. Dann werde ich hineinblasen, und es werden mit Allahs Erlaubnis Vögel sein. Und ich werde mit Allahs Erlaubnis Blinde und Aussätzige heilen und Tote (wieder) lebendig machen. Und ich werde euch Kunde geben von dem, was ihr in euren Häusern esst und aufspeichert. Darin liegt für euch ein Zeichen, wenn ihr gläubig seid.” (3:49)
„Es ist wahrscheinlich, dass das „Auferwecken der Toten“ durch Jesus eine metaphorische Beschreibung dafür ist, dass er Menschen neues Leben gab, die spirituell tot waren. Wenn diese Interpretation- wie ich glaube- richtig ist, dann hat das „Heilen der Blinden und der Aussätzigen“ eine entsprechende Bedeutung: nämlich eine innere Regeneration von den Menschen, die spirituell krank und blind gegenüber der Wahrheit waren.“ (Die Botschaft des Koran, S. 116)
Asads Interpretation erhält auch Unterstützung von dem bekannten katholischen Theologen Hans Küng. Auch im christlich- theologischen Diskurs kann man Parallelen zum Islam erkennen:
„Nicht das Beben des Berges Sinai ist wichtig, sondern die Botschaft, die Moses bei dieser Gelegenheit vernimmt. Nicht die Plagen Ägyptens sind wesentlich, sondern das Zeugnis von Gott, der seine rettende Macht demonstriert. Nicht der wunderbare Durchzug durch das Meer ist bedeutsam, sondern die Botschaft von Gott, den das Volk als Gott der Befreiung erfährt. Die Wunder stehen demnach in der Bibel als Metaphern, so wie in der Poesie Metaphern auch nicht die Naturgesetze aushebeln wollen.“ (Der Anfang aller Dinge, S.173)
Ein anderer Zeitgenosse von Asad, der pakistanische Professor für Theologie Fazlur Rahman, interpretierte die Stellen „die Durchbrechung der Naturgesetze“ freilich orthodoxer als Muhammad Asad.
Rahman und Asad bekannten sich zu der mutazilitischen Denkschule. Sie wurde im 8. Jahrhundert von Wasil ibn Ata gegründet. Wegen der rationalistisch psychologisierenden Herangehensweise wird sie bis heute verdächtigt, Ketzer zu sein.
Für Fazlur Rahman gibt es einige Ausnahmen, wenn die Wunder der Propheten die Naturgesetzte durchbrechen. Er stützt sich auf die maßgebliche Stelle:
Und kein Gesandter darf ein Wunder bringen, außer mit Allahs Erlaubnis. (Koran: 40/78)
Daher sollen die entsprechenden Koranstellen mit einem Wunder-Charakter, zweifelsohne wörtlich genommen werden (Fazlur Rahman, Ana Konulariyla Kuran, S,121).
Beide Sichtweisen sind auch heute stark vertreten, so dass dies verdeutlicht, wie schwierig und komplex das Thema „Wunder Gottes“ ist, welches seit 1200 Jahren geführt wird. Auch in absehbarer Zeit ist unklar, welche Sichtweise sich durchsetzen wird.
Aber eins steht fest, für beide ist der Korantext eine Rede Gottes (kalam Allah)!
Quelle: http://antikezukunft.de/2011/11/28/wie-sind-wunder-zu-verstehen/